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Digitale Souveränität: Warum Europas Unabhängigkeit jetzt zählt

Datensouveränität

Einleitung

Wir nutzen sie jeden Tag: Cloud-Dienste speichern unsere Urlaubsfotos, verwalten unsere Geschäftsberichte und steuern unsere Fabriken. Doch während wir die Effizienz dieser digitalen Werkzeuge genießen, stellt sich eine entscheidende Frage: Wem „gehören“ diese Daten wirklich?

Digitale Souveränität ist die Antwort auf diese Frage. Es ist die Fähigkeit, selbstbestimmt über unsere digitalen Geschicke zu entscheiden – und sie ist entscheidend für die Zukunft unserer Wirtschaft, den Schutz unserer Grundrechte und die Stabilität unserer Demokratie.

Was ist „Digitale Souveränität“ überhaupt?

Digitale Souveränität bezeichnet die Fähigkeit von Staaten, Unternehmen und Bürgern, die digitalen Räume, in denen sie agieren, selbstbestimmt zu gestalten und zu kontrollieren.

Es geht dabei nicht um digitale Abschottung oder Isolation. Es geht um Handlungsfähigkeit.

Konkret bedeutet das:

  • Kontrolle über Daten: Zu wissen, wo die eigenen Daten (von Bürgern, Unternehmen oder Behörden) gespeichert sind, wer darauf zugreifen kann und nach welchen rechtlichen Regeln dies geschieht.
  • Technologische Unabhängigkeit: Nicht von einzelnen Anbietern oder Technologien (insbesondere aus Drittstaaten) existenziell abhängig zu sein.
  • Regulatorische Durchsetzung: Die Fähigkeit, eigene Gesetze und Grundwerte – wie die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) in Europa – auch im digitalen Raum effektiv durchzusetzen.

 
(Quellen für diese Definitionen finden sich u.a. beim Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) oder dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), die diesen Begriff als Kernziel definieren.)

Warum wahre Digitale Souveränität so wichtig ist

Die Kontrolle über unsere digitalen Infrastrukturen ist kein „IT-Problem“, sondern eine strategische Notwendigkeit. Wenn wir diese Kontrolle abgeben, entstehen konkrete Risiken für Gesellschaft und Wirtschaft.

  • Schutz der Grundrechte (Datenschutz)
    Europa hat mit der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) weltweit den höchsten Standard für den Schutz persönlicher Daten gesetzt. Diese Regeln können jedoch untergraben werden, wenn die Daten von Anbietern verwaltet werden, die Gesetzen aus Drittstaaten unterliegen (siehe nächster Punkt). Wahre Souveränität stellt sicher, dass unsere europäischen Grundrechte auch in der digitalen Welt gelten. (Quelle: EuGH-Urteil „Schrems II“, C-311/18, das den Mangel an Schutz bei US-Transfers feststellte)
  • Wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit
    Eine starke Abhängigkeit von wenigen, außereuropäischen Technologieanbietern (ein sogenanntes Oligopol) schafft „Lock-in“-Effekte. Unternehmen werden abhängig von den Preismodellen, den Technologien und den Geschäftsbedingungen dieser Anbieter. Das hemmt Innovation und schwächt die Verhandlungsposition der europäischen Wirtschaft. Digitale Souveränität bedeutet, den eigenen Tech-Sektor zu stärken und fairen Wettbewerb zu ermöglichen. (Quelle: Analysen des Bundeskartellamts oder der EU-Kommission zur Marktmacht von Hyperscalern)
  • Sicherheit und Stabilität (KRITIS)
    Kritische Infrastrukturen – unsere Energieversorgung, das Gesundheitswesen oder die öffentliche Verwaltung – werden zunehmend digitalisiert und in Clouds verlagert. Wenn diese Systeme auf Plattformen laufen, die von geopolitischen Spannungen oder den Entscheidungen anderer Staaten beeinflusst werden können, stellt dies ein massives nationales Sicherheitsrisiko dar. (Quelle: Warnungen des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) zum Schutz von KRITIS)
  • Demokratische Kontrolle
    Im Kern geht es darum, wer die Regeln für unsere digitale Gesellschaft festlegt. Sind es die Geschäftsbedingungen von globalen Konzernen oder sind es unsere demokratisch legitimierten Gesetze? Digitale Souveränität stellt sicher, dass unsere Gesellschaft die Regeln für den digitalen Raum selbst definieren kann.

Die Herausforderung: Hyperscaler und der U.S. CLOUD Act

Auf dem Papier klingt „Datenspeicherung in der EU“ sicher. In der Praxis gibt es jedoch einen fundamentalen Konflikt, der Europas digitale Souveränität direkt bedroht.

Das Problem: Marktmacht trifft auf US-Gesetz

Das Problem besteht aus zwei Teilen:

  • Die Marktdominanz (Hyperscaler)
    Der Markt für Cloud-Infrastruktur wird weltweit von einer Handvoll US-Unternehmen dominiert, den sogenannten „Hyperscalern“ (hauptsächlich Amazon Web Services (AWS), Microsoft Azure und Google Cloud). Europäische Unternehmen sind oft technisch und operativ von den Diensten dieser Giganten abhängig. (Quelle: Aktuelle Marktanalysen, z.B. von Synergy Research Group oder Gartner)
  • Der rechtliche Zugriff (U.S. CLOUD Act)
    Das Hauptproblem ist der U.S. CLOUD Act (Clarifying Lawful Overseas Use of Data Act) von 2018.
    Dieses US-Gesetz verpflichtet amerikanische Unternehmen (und deren Tochtergesellschaften weltweit), US-Behörden (wie dem FBI oder der NSA) Zugriff auf gespeicherte Daten zu gewähren.

    Das ist der entscheidende Punkt: Dieser Zugriff muss gewährt werden, selbst wenn die Daten ausschließlich außerhalb der USA – beispielsweise in einem Rechenzentrum in Frankfurt oder Dublin – gespeichert sind.

Der unlösbare Konflikt mit der DSGVO

Hier entsteht die Zwickmühle für europäische Unternehmen:

  • Europäisches Recht (DSGVO) verbietet die Herausgabe von personenbezogenen Daten an Drittstaaten ohne ein angemessenes Schutzniveau oder eine klare Rechtsgrundlage. 
  • US-Recht (CLOUD Act) erzwingt genau diese Herausgabe, ohne dass europäische Gerichte oder die betroffenen Personen ein Mitspracherecht hätten.

Ein US-Anbieter, der in Europa tätig ist, steckt damit in einem „Conflict of Laws“: Entweder er verstößt gegen die DSGVO (und riskiert massive Strafen in der EU) oder er widersetzt sich dem CLOUD Act (und riskiert Sanktionen in den USA).

Aus diesem Grund hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Jahr 2020 das Datenschutzabkommen „Privacy Shield“ gekippt (Urteil „Schrems II“). Der Gerichtshof stellte fest, dass die US-Gesetzgebung (inkl. CLOUD Act und ähnlicher Überwachungsgesetze wie FISA 702) keinen ausreichenden Schutz für die Grundrechte von EU-Bürgern bietet. (Quelle: EuGH, Urteil in der Rechtssache C-311/18)

Fazit des Problems: Ein Rechenzentrum mit Standort „Deutschland“ bietet keine Sicherheit, wenn der Betreiber „U.S. Hyperscaler“ heißt.

Lösungsansätze: Der europäische Weg

Die Situation ist komplex, aber Europa ist nicht machtlos. Das Ziel ist nicht, das Internet „abzuschotten“, sondern Handlungsfähigkeit durch strategische Initiativen und klare Regeln zurückzugewinnen.

  • Förderung europäischer Infrastrukturen (Gaia-X)
    Eine der bekanntesten Initiativen ist Gaia-X. Das Ziel von Gaia-X ist nicht, einen neuen Hyperscaler zu bauen, sondern einen Standard für eine föderierte, offene und transparente Dateninfrastruktur zu schaffen. Es soll ein „Marktplatz“ für vertrauenswürdige Cloud-Dienste entstehen, bei dem Anbieter (auch außereuropäische) transparent machen müssen, welche Regeln (z.B. DSGVO-Konformität, Immunität gegen CLOUD Act) sie einhalten. (Quelle: Offizielle Dokumentation von Gaia-X AISBL)
  • Nutzung von Open Source (Quelloffenheit)
    Software, deren Quellcode offenliegt (Open Source), ist ein zentraler Baustein für digitale Souveränität. Sie ermöglicht Transparenz (man kann sehen, was die Software tut), Sicherheit (Fehler können von vielen entdeckt werden) und Anpassbarkeit. Vor allem aber verhindert sie den „Vendor Lock-in“: Man ist nicht an einen einzigen Anbieter gebunden und kann den Dienstleister wechseln oder die Software selbst betreiben.
  • Souveräne Cloud-Alternativen (Private & Hybrid Clouds)
    Für viele sensible Daten (Behörden, Gesundheitswesen, KRITIS) ist die „Public Cloud“ der Hyperscaler keine Option. Hier sind Private Clouds (im eigenen Rechenzentrum betrieben) oder vertrauenswürdige europäische Cloud-Anbieter, die nicht dem U.S. CLOUD Act unterliegen, die souveräne Alternative. Diese bieten oft ein vergleichbares Maß an Flexibilität, aber mit voller rechtlicher und technischer Kontrolle.
  • Starke europäische Regulierung
    Parallel zur Technologie schafft die EU einen neuen Rechtsrahmen. Gesetze wie der Digital Services Act (DSA) und der Digital Markets Act (DMA) zielen darauf ab, die Marktmacht der großen Plattformen (Gatekeeper) zu begrenzen, fairen Wettbewerb zu erzwingen und die Rechte der Nutzer im digitalen Raum zu stärken.

Fazit: Eine strategische Notwendigkeit

Digitale Souveränität ist kein technisches Nischenthema, sondern eine der zentralen strategischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts.

Es geht nicht darum, sich von der Welt abzuschotten, sondern darum, als Europa handlungsfähig zu bleiben. Wenn wir unsere kritischen Infrastrukturen, unsere Wirtschaftsdaten und die Kommunikation unserer Bürger vollständig in die Hände von Anbietern legen, die außereuropäischen Gesetzen wie dem U.S. CLOUD Act unterliegen, geben wir einen wesentlichen Teil unserer Selbstbestimmung auf.

Wahre digitale Souveränität – gestützt auf starke eigene Infrastrukturen, transparente Open-Source-Standards und ein klares Bekenntnis zu unseren Grundrechten (DSGVO) – ist die Voraussetzung für ein freies, sicheres und wettbewerbsfähiges Europa.

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